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Schnitt | Minutenromane

Corinna Waffender | Sechzehn Prosastücke, darunter die vom Autorinnenforum Rheinsberg ausgezeichnete Kurzprosa „Ohne Ende leben“, schneidet Corinna Waffender auf virtuose Weise zu einem beeindruckenden Ganzen zusammen. Es sind Momentaufnahmen, Szenen, Einstellungen, die die Protagonistinnen und Protagonisten auf eine eigene, besondere Weise beleuchten und ihre Gefühle und Charaktere umso deutlicher hervortreten lassen. 

So schildert „Hinter Glas“ die Beziehung zweier Frauen und die jähe Tragik, die der Satz „Fass mich nicht an!“ bekommen kann. In „Stille Post“ läuft ein eigenartiger Film zwischen Tina und Jo ab. „Bis dass“ erzählt von Manni und dessen ungewöhnlichem Hobby, Todesanzeigen zu archivieren. Und „Ohne Ende leben“ ist eine melancholisch-poetische Schilderung einer Zukunft, in der Unsterblichkeit zum Fluch geworden ist. Wie schon im Romandebüt Zwischen den Zeilen beweist Corinna Waffender auch in Schnitt ihr poetisches Können, die Fähigkeit, die Welt in ihrer ganzen literarischen und sprachlichen Intensität hervortreten zu lassen. Sechzehn Prosastücke, darunter die vom Autorinnenforum Rheinsberg ausgezeichnete Kurzprosa „Ohne Ende leben“, schneidet Corinna Waffender auf virtuose Weise zu einem beeindruckenden Ganzen zusammen. Es sind Momentaufnahmen, Szenen, Einstellungen, die die Protagonistinnen und Protagonisten auf eine eigene, besondere Weise beleuchten und ihre Gefühle und Charaktere umso deutlicher hervortreten lassen. So schildert „Hinter Glas“ die Beziehung zweier Frauen und die jähe Tragik, die der Satz „Fass mich nicht an!“ bekommen kann. In „Stille Post“ läuft ein eigenartiger Film zwischen Tina und Jo ab. „Bis dass“ erzählt von Manni und dessen ungewöhnlichem Hobby, Todesanzeigen zu archivieren. Und „Ohne Ende leben“ ist eine melancholisch-poetische Schilderung einer Zukunft, in der Unsterblichkeit zum Fluch geworden ist. Wie schon im Romandebüt Zwischen den Zeilen beweist Corinna Waffender auch in Schnitt ihr poetisches Können, die Fähigkeit, die Welt in ihrer ganzen literarischen und sprachlichen Intensität hervortreten zu lassen.

Querverlag

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Glaube und Zweifel Lesart

In the desert

Stephen Crane hat ein nachdenkliches Gedicht über die menschliche Natur und Gier geschrieben. Es wurde erstmals 1895 veröffentlicht. Das Gedicht handelt von einem Menschen, der eine Kreatur in der Wüste erblickt, die ihr Herz isst. Bedrückend veranschaulicht der Autor zudem, wie die Kreatur diese barbarische Handlung rechtfertigt. Obwohl das Gedicht nur zehn Zeilen hat, bringt es die dunkleren Aspekte der menschlichen Natur perfekt ans Licht.

In the desert
I saw a creature, naked, bestial, 
Who, squatting upon the ground, 
Held his heart in his hands, 
And ate of it.
I said, “Is it good, friend?” 
“It is bitter—bitter,” he answered;
“But I like it
“Because it is bitter,
“And because it is my heart.”

Stephen Crane

Dieses kurze lyrische Gedicht besteht aus einem einzigen Satz, der die erste Hälfte des Stücks und die zweite Hälfte, eine Frage und eine Antwort, umfasst. Die Stimme in dem Gedicht spricht in der ersten Person von einer früheren Begegnung mit einem wilden Mann in der Wüste und zitiert dann für den Leser die Worte, die zwischen ihnen gesprochen wurden. Das Gedicht ist kurz, sehr kompakt und leicht zweideutig, so dass ein genauer Blick auf jede Zeile und die Definition der darin enthaltenen Wörter helfen wird, die Bedeutung zu erforschen.

Die erste Zeile legt den Schauplatz des Gedichts fest, aber beachten Sie, dass es sich um die Wüste und nicht um eine Wüste handelt, so dass daraus geschlossen werden muss, dass die Bedeutung der Wüste größer ist als der physische Ort. Eine Wüste ist ein unfruchtbarer Ort; unfruchtbar hat einen weiten Bedeutungsbereich, leer in seiner einfachsten Form, aber auch unfähig, Früchte zu tragen, so wie eine Frau auch unfruchtbar sein kann. Wüsten gelten als isoliert und werden mit Verlassenheit assoziiert. Die zweite Zeile führt den Agenten unserer Metapher ein; nackt bedeutet, ohne Bedeckung, Verbergen, Verkleidung oder Verschönerung zu sein, und wird mit Verwundbarkeit assoziiert; bestialisch ist hier ein variables Wort, weil es je nach Leser die Bedeutung des Gedichts verändern kann. Bestialisch bedeutet, brutal oder verderbt zu sein, aber auch ohne Intelligenz oder Vernunft; man könnte es sogar in seiner niedrigsten Form nehmen, tierähnlich oder untermenschlich, was das Gedicht näher an einen Menschen gegen die Natur des Menschen im Thema bringen würde. Dann der Nebensatz des ersten Satzes, der die Zeilen drei bis fünf bildet. Das Geschöpf hockt auf dem Boden, was nicht nur ein tierähnliches Verhalten zeigt, sondern auch einen Höhenunterschied schafft, der als symbolisch interpretiert werden kann, da sich das Geschöpf in der untersten Tiefe des menschlichen Fassungsvermögens befindet. Obwohl es Kreatur genannt wird, hält es sein eigenes Herz in den Händen, nicht Krallen oder Pfoten, und ganz am Anfang von Zeile drei wird es als wer bezeichnet, während das passende Wort welches wäre, wenn es sich auf ein Tier bezieht. So erhalten wir trotz der tierähnlichen Beschreibung ein Gefühl von Menschlichkeit, als ob es irgendwann einmal menschlich gewesen wäre. Die Kreatur isst von seinem eigenen Herzen. Das Wort Herz kann hier nicht einfach das Organ bedeuten, obwohl es das Bild ist. Das Herz gilt als der emotionale Kern des Körpers und der Seele, und auf den moralischen Zustand der Person wird oft durch die Beschreibung des fiktiven physischen Zustands des Herzens verwiesen, wie z.B. schwarz, bitter, verschrumpelt oder ebenfalls aus Gold. In Zeile sechs fragt der Redner das Geschöpf, ob es (das Herz) gut ist, und nennt es Freund. Diese Zeile tut zweierlei: Sie stellt fest, dass die Kreatur sprechen kann, wodurch ihre menschliche Qualität gefestigt wird, und sie beseitigt die Vorstellung, dass die Kreatur bedrohlich ist, die die seltsame und monströse Beschreibung in der ersten Hälfte hervorrief. Als nächstes antwortet die Kreatur, indem sie es bitter nennt, ein Wort, das einen beißenden Geschmack bedeutet, der sich zu einer Vielzahl unterschiedlicher emotionaler Assoziationen entwickelt hat, wie z.B. Groll, Zynismus, scharf unangenehm und schwer oder schmerzhaft zu akzeptieren oder zu ertragen.

Wie Crane selbst sagen könnte, ist hier der interessante Teil: Die Kreatur behauptet, den Geschmack seines Herzens zu mögen, weil er bitter ist und weil es sein Herz ist. Es wird uns nicht gesagt, warum sein Herz bitter ist, ob es angeboren ist oder ob es daran liegt, dass er in einer Wüste ausgesetzt wurde; beides sind vernünftige Lesarten, die davon abhängen, ob man die Kreatur so interpretiert, dass sie die Natur des Menschen oder den ausrangierten, sozialen Außenseiter des Menschen in der tiefsten Tiefe des menschlichen Leidens darstellt. Die Kreatur schreit nicht, sie antwortet einfach, dass das bittere Herz ihr eigenes ist, als ob sie keine andere Wahl hätte, als sich an dem zu erfreuen, was sie geworden ist, indem sie sich von der Bitterkeit ernährt, die dort kultiviert wurde.

Hier die Lesart des Gedichtes von Noor Visser:

In the desert ist ein Ausdruck des Staunens. Das lyrische Ich beginnt mit der Beschreibung einer Kreatur, die es in der Wüste sieht. Diese erscheint dem Erzähler wie eine Tiergestalt, die auf dem Boden hockt. Zu seiner Überraschung hält es sein Herz halb aufgefressen in der Hand. Da fragt das Ich die Kreatur nach dem Geschmack des Herzens, worauf sie antwortet, es sei bitter. Und behauptet auch noch, es gerne zu essen.

Ich vermute, auf einer tieferen Ebene beschreibt das Gedicht verschiedene Aspekte, Wahrheiten dieses Lebens. Die Einsamkeit des Geschöpfes steht möglicherweise für eine innere Unzufriedenheit, das Essen des eigenen Herzens für eine gewalttätige und gierige Natur. Und doch: Ungeachtet aller Fehler und Bitterkeit liebt und genießt das Geschöpf den gegenwärtigen elenden Zustand seines Lebens.

Gier und Selbstliebe sind die herausragenden Themen dieses Gedichtes. Das Gedicht dreht sich um zwei Charaktere, einen Wilden, der fröhlich eine böse Tat begeht, und einen passiven Mann, der nicht versucht, diese Bestie aufzuhalten. Stattdessen erlaubt er ihm, seine Praxis fortzusetzen. Auf der oberflächlichen Ebene reflektiert das Gedicht die Begegnung des Redners mit einer seltsamen Gestalt in der Wüste, die gnadenlos und voller Stolz sein eigenes Herz verspeist.

Stephen Crane ist ein tiefgründiger und wahrhaftiger Dichter. Was ich an diesem Gedicht spannend finde, sind die unheimlichen und geheimnisvollen Töne, die er in seinem gesamten Text verwendet. Als ich das Gedicht „In der Wüste“ las, musste ich es einige Male lesen, um das Konzept dessen zu begreifen, das Crane darzustellen versuchte.

Die Szenerie findet in der Wüste statt, die ein Symbol für Leere und Ewigkeit ist. Das Geschöpf, das „sein Herz in den Händen hielt“ , verschlingt das Organ, während es sich hinhockt und verstümmelt, was ihm gehört. (Und was ihn u.a. ausmacht?)

Stephen Crane stellt das Herz als sich selbst dar, und auf die Frage „Ist es gut, Freund?“ stimmt die Kreatur zu und verzehrt weiter, was übrig bleibt. Die Kreatur repräsentiert den Menschen, so wie das Herz das Bewusstsein eines Menschen repräsentiert. Als ich dieses Gedicht las, dachte ich über die Grundschule nach und wie die goldene Regel lautete: „Behandle andere so, wie du selbst behandelt werden würdest“.
Wenn man die Regel missachtet, demoralisiert man seinen Charakter mit einer bitteren Seele und bitterem Herzen. Die Kreatur wird in der Wüste gefunden, weil sie nichts hat. Es wird in der Grube seiner eigenen Hölle und Verzweiflung entleert, indem es mit sich selbst isoliert ist. Während sie isst, antwortet sie dem Mann: „Es ist bitter-bitter“, was Selbstzerstörung und Elend zur Folge hat. Sie frönt ihrem blutigen Eingeweide und sagt: „Aber ich mag es, denn es ist bitter, und es ist mein Herz“. Indem sie die bittere Frucht zu sich nimmt, verdirbt die Kreatur sich noch mehr; der Mangel an SelbstEmpathie regiert.

Das Tier ist so sehr in sich selbst und in seiner Bitterkeit verloren, dass es keine Freiheit zum Leben hat; es scheint, es wird immer das erbärmliche Gift der Selbstzerstörung ertragen. Sein Herz ist das wichtigste, was es hat, und verschlingt das Tier das wichtigste Element verschlingt, das das Leben erhält, wird es nicht leben. Im übertragenen Sinne vielleicht noch vegetieren. Dieses Gedicht kann jemanden im wirklichen Leben widerspiegeln, denn je mehr Sie sich von bitteren Früchten ernähren, desto weniger wahrscheinlich ist es, dass Sie die süße Glückseligkeit erlangen, die das Leben für Sie bereithält.

Ich stelle mir das Herz als Symbol für den freien Willen vor. Das Essen ist eine essentielle Handlung des Menschen, bei der er den freien Willen als gegeben hinnimmt. Das Gedicht spricht über den menschlichen Kreislauf der Selbstzerstörung.

Wenn ich dieses Gedicht wieder und wieder lese, ist es, als ob sich meine Wahrnehmung immer mehr verändert. Wenn ich über den Tellerrand hinausblicke, verstehe ich endlich die Entstehung dieses Gedichts. Seine Herangehensweise an das Leben ist verrückt und verdreht, was mich sofort ertappt hat, denn es geht nicht um die typische rührselige Liebe oder Sex.
Stephen Crane versüßt seine Botschaften nicht, er geht roh und tief in seinen Text hinein, was ihn so interessant und erfrischend macht. Durch Stephen Cranes schreckliches Gedicht greife ich als Selbstmotivation auf, mich selbst klar zu halten und mich durch Schmerz und Leid nicht unnötig einschränken zu lassen; mich dem auszuliefern.
Wir durchleben immer wieder negative Phasen im Leben, aber es liegt an uns, sich selbst vor dem bitteren Herzschmerz zu bewahren.

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Feuilleton

Maxie Wander (eigentlich Elfriede Brunner), 1933 in Wien geboren, lebte seit 1958 mit ihrem Mann, dem österreichischen Schriftsteller Fred Wander, in der DDR. Sie war Sekretärin, Fotografin und Journalistin, schrieb Drehbücher und Kurzgeschichten. Außerdem war sie als Koautorin an mehreren Reiseberichten ihres Mannes beteiligt.
Bekannt geworden ist durch sie übrigens das Genre der Protokoll-Literatur bzw. dokumentarische Literatur. Also literarische Texte, die aus nichtliterarischem, recherchiertem oder authentischem Material zusammengestellt oder komponiert wurden. Ihr bekanntestes Buch ist Guten Morgen, du Schöne. Protokolle nach Tonband. Darin lässt die Autorin Frauen unterschiedlicher sozialer Herkunft und unterschiedlichen Alters über ihre Alltagserfahrungen, Befindlichkeit und Wünsche sprechen.

1972, fünf Jahre vor ihrem Tod, hat sie ihre Situation so skizziert:

»Eine neununddreißigjährige Wienerin, die ihre große Liebe gefunden und geheiratet hat, einen schwer vorbelasteten, sechzehn Jahre älteren, gut aussehenden, liebesfähigen, schwermütigen, feinfühligen jüdischen Mann. Sie hat zwei Kinder geboren, eines wieder verloren, hat niemals einen Berut erlernt, einige aber aus- geübt, sie hat ein Kind aus einem Heim zu sich genommen, hat ihre Heimat verlassen und sie erst danach, viel später, als Heimat begriffen. Sie hat mit einem Schlag das Altern begriffen, das andere Leute vielleicht als Prozess erleben, der nichts Erschreckendes hat. Sie musste begreifen lernen, wie wenig sie sich vorbereiten konnte, allein vertrauend aut ihren hübschen, noch immer jugendlichen Körper. Was nun?«

Fred Wander, dieser beschriebene Mann, hat aus über tausend Briefen und Tagebuchblättern eine Auswahl zusammengestellt, die sowohl Lebensgeschichte seiner Frau greifbar macht, als auch die Geschichte einer Krebskranken. Mit großer Offenheit hat Maxie Wander in Briefen an Freunde und persönlichen Aufzeichnungen über die einzelnen Stationen ihrer Krankheit berichtet, über ihr Erschrecken, ihre Hoffnungen, das Verschleiern und Verschleppen, über die ganze Ohnmacht und das Versagen der Medizin, aber auch ihrer Umgebung dieser Krankheit gegenüber. Zwischen Hoffnung und Verzweiflung schreibt sie: »Leben wär‘ eine prima Alternative.«

Ich habe zwei Ausgaben der Aufzeichnungen und Briefe: Eine – leicht gekürzte – Ausgabe von Luchterhand unter dem Titel Leben wär‘ eine prima Alternative und die Originalausgabe vom buchverlag der morgen aus Berlin.

Bisher war mir Maxie Wander kein Begriff;. Die Originalausgabe wurde mir geschenkt; die zweite fand ich einem öffentlichen Bücherschrank in der Nähe des Kunstvereins Tosterglope.

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Flugtuch der Träume

Diesen kleinen Lyrikband von Vera Lebert-Hinze habe ich in einem offenen Bücherschrank entdeckt. Zugegriffen habe ich wegen des Titels, weil ich mit “Flugtuch” nur ahnend etwas anfangen konnte. Die abgedruckten Gedichte beschäftigen sich oft mit dem s.g. Herbst des Lebens. Mal tröstlich, mal resignierend (so scheint es mir) aber auch auflehnend. Ihre Gedichte sind Selbstreflexion, wohl auch durch ihre Träume inspiriert und spielen viel mit dem Gefühl der “Ahnung”. Leider ist es mir nicht gelungen, Kontakt zur Autorin aufzunehmen; ich hätte sie gern dazu befragt. Nach 2003 gibt es keine Veröffentlichungen.

Über die Qualität ihrer Lyrik kann ich nichts allgemein gültiges sagen, jedoch ist mir etwas aufgefallen: auf mich wirken diese Texte oft nicht fertig, ich nehme reflexartig meinen Füller, und erweitere, dünne aus, formuliere um, gebe eine neue Richtung vor. Das gefällt mir, da es leider nicht selten in eine gewisse Ehrfurchthaltung gehe und die Worte so stehen lassen will.

Mein Favorit aus diesem Band:

Wer
echolos
im Nebel
steht


kennt
verhangener
Gipfel
Alphabet


spricht
der Höhe
steinerne
Sprache

Zur Autorin: geboren 1930 in Mannheim, Ausbildung zur Malerin, Korrektorin in einem Verlag, nach der Kindererziehung freie Schriftstellerin (1979 – 2003).

Vera Lebert-Hinze | Flugtuch der Träume
Reihe Manuskripte #93 | 1984
Gauk-Verlag (Diesen gibt es in dieser Form nicht mehr.)

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Die kleine Hinkende

Diese Zeile aus dem Buch Herz, stirb oder singe hat sich in meinem Gedächtnis festgesetzt. Insbesondere, wenn ich die Lyriksammlung von Juan Ramón Jiménez zur Hand nehme. Auf dem Buchcover passend dazu die rohe Skizze einer jungen Frau. Sie lächelt. (Gezeichnet übrigens von Henri Matisse.)

Die kleine Hinkende – so der Titel eines Gedichts – umschreibt die Pole des Nicht-dazu-gehörens und des Selbstverständlich-dazugehörens-aber-einseitigkeitswunderns-Gefühls. Unerschütterlich. Alles scheint zu eilen, einem Autopiloten übergeben, auch die Natur, niemand kommt auf die Idee zu warten, inne zu halten, um sich blicken. Nicht nur das Mädchen scheint Krücken für sein verdrehtes, wie fremd hängendes Bein zu benötigen; das Kind(?) ist eine Krücke für unsere unsteten Augen und eine als fremd abgehängte Achtsamkeit im Leben. So habe ich Jiménez Verse für mich verstanden.

Ein Himmel aus Traum und Seide
dringt bis ins Herz.
Die Kinder, in Weiß, kommen,
spielen, schwitzen, schreien:

„laaauf!“

Das Mädchen lächelt: Warte,
ich geh‘ die Krücke holen!

Aber niemand wartet. Weder der Frühling, noch die Vögel und schon gar nicht die Kinder. Das Fest gehört dem, der läuft und der fliegt.

BuchCover Diogenes Verlag

Wie oft lese ich in letzter Zeit, alles würde lauter, hektischer, schneller. Und ich Trotzkopf werde immer langsamer. Als nähme ich mir freiwillig eine Krücke, um mich selbst daran zu erinnern inne zu halten. Alles überholt mich. Wirklich? Nein, da sehe ich nun Menschen, Vögel, die Jahreszeiten, die ich so vorher noch nicht wahrgenommen habe. Die gefühlt auch stehen bleiben. Ich möchte durch die Straßen schlendern und dabei marktschreierisch skandieren:

Krücken zu verschenken! Nehmen Sie! Versuchen Sie! Erleben Sie!

Und wenn ich meinen Vorrat abgegeben habe, werde ich lächeln und rufen:

Wartet, ich geh‘ neue Krücken holen!

Entnommen aus: Juan Ramón Jiménez | Herz, stirb oder singe
Gedichte | DIOGENES VERLAG | 2. Auflage 1969
Zweisprachige Ausgabe
Übersetzung aus dem Spanischen: Hans Leopold Davi
Mit fünf Illustrationen von Henri Matisse.