Eine Einführung in die Schwerpunkte: Wir haben bereits für das Jahr 2022 Themenschwerpunkte gewählt, die wir über das Jahr verteilt beleuchten. Angelegt werden diese, anders als bei einem Printmedium, bereits im Januar/Februar. So können Sie frühzeitig erkennen, was Sie erwartet. Es gibt dann bereits erste Inhalte, eine Art Inhaltsverzeichnis, das stetig erweitert wird und Hintergrundberichte zu Recherche und Ausarbeitung der jeweiligen Beiträge.
Im vorgesehenen Zeitraum wird der Schwer. „rund gemacht“ und beworben. Sollten wir feststellen, dass sich durch Ihre Beteiligungen, Anregungen und unsere Recherchen sich ein größeres, neues Feld auftut, dann greifen wir diesen Schwer. zu einem späteren Zeitpunkt wieder auf.
Wir haben folgende Schwerpunkte geplant:
Glaube und Zweifel (Januar – März) distelicht – Eine lyrische Landpartie (Januar – Dezember) Hygienekonzept (März – April) Die unaufhörliche Wanderung (März – Mai) – Anlass ist die Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung 2022 an den österreichischen Schriftsteller und unermüdlichen Aufklärer Karl-Markus Gauß für sein Buch „Die unaufhörliche Wanderung: Reportagen“. Das menschliche Porträt (Mai – Juli) Kreativer Widerstand (Mai – August) Roger Willemsens Buchtitel als Ideengeber (August – September) – Das ist vorerst der Arbeitstitel All die Frauen (August – Dezember) Spanien (Oktober – November) – Begleitend zur Frankfurter Buchmesse Mannstreu (November – Dezember)
Die Themenabläufe können sich geringfügig verändern. Sobald ein Schwer. eröffnet ist, sehen diesen hier verlinkt.
Haben Sie Fragen, Anregungen? Wenn Sie meinen, ein bestimmstes Buch, ein Text sollte unbedingt in einem Schwer. ausführlich erwähnt werden, lassen Sie es uns gern wissen. Dann freuen wir uns auf Ihre Nachricht an redaktion@distelicht.de
Die Einsamkeit ist wie ein Regen. Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen; von Ebenen, die fern sind und entlegen, geht sie zum Himmel, der sie immer hat. Und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt.
Regnet hernieder in den Zwitterstunden, wenn sich nach Morgen wenden alle Gassen und wenn die Leiber, welche nichts gefunden, enttäuscht und traurig von einander lassen; und wenn die Menschen, die einander hassen, in einem Bett zusammen schlafen müssen:
dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen…
Aus: Das Buch der Bilder | Die erste Auflage erschien 1902 und umfasste 45 Gedichte. Ihr folgte 1906 eine zweite, um 37 Gedichte erweiterte, formal und inhaltlich wesentlich veränderte Ausgabe.
Heute verdrängen wir nicht mehr Sexualität, sondern Schuld: Klopft das Schuldgefühl an der Türe des Bewusstseins, geben wir schnell die heiße Kartoffel an andere weiter. Eltern, Lehrer, Ehepartner – alle sollen schuld sein, nur damit wir uns nicht schuldig fühlen müssen. Beim Wiener Psychiater Raphael M. Bonelli legt sich die Unschuld auf die Couch. An vielen Fällen aus seiner Praxis zeigt er: Fremdbeschuldigung und Selbstmitleid machen unfrei, bitter und oft auch wirklich krank. Der korpulenten Patientin ist klar: »An meinem Gewicht ist meine Familie schuld!« Der Ehemann schiebt den Seitensprung, bei dem er ertappt wurde, seiner bigotten Umgebung in die Schuhe, denn: »Ein gesunder Mann braucht das!« Und der überführte Dopingsünder sieht sich als Opfer der Medien. Bonellis Therapievorschlag lautet: Persönliche Schuld erkennen und selbst Verantwortung für das eigene Tun übernehmen. Wer zu einem schmunzelnden „Selber schuld!“ bereit ist, kann auch leichter anderen verzeihen.
„Über Sex zu sprechen ist heute kein Problem mehr, weder in Therapien noch in Talkshows. […] Aber über eigene Fehler sprechen – das geht gar nicht. Nichts ist so intim wie die eigene Schuld. Die Abwehraggression bei dem Thema ist deutlich spürbar, besonders auffällig natürlich bei Paartherapien, bei denen jeweils “Unschuld” auf Beschuldigung prallt. […] Wir verdrängen unsere Schuld, weil sie letztlich Schmerz bedeutet und wir Angst vor Schmerz haben. Viele Menschen tun sich heute schwer, die Verantwortung für ihre Taten zu übernehmen, und haben sich ein entlastendes Erklärungsmuster von Fremdbeschuldigung und Selbstmitleid zurechtgelegt. Fast jeder sieht sich als Opfer. Dieser Mechanismus ist aber der seelischen Gesundheit nicht förderlich … „
Der 1968 geborene Neurowissenschaftler und Psychotherapeut setzt sich hier vor allem mit der inneren Einstellung auseinander, selbst nie an der eigenen Misere schuld sein zu wollen. Schuld sind die anderen, die Eltern, die Lehrer, der Partner, die Lebensumstände usw. Allerdings schränkt uns die Verdrängung der eigenen Schuld und das Ausweichen in die Fremdbeschuldigung sowie das Erstarren in der Opferrolle in unserem Handlungsspielraum ein. Als Opfer könne man nichts tun, um sich aus Verstrickungen zu befreien, die man möglicherweise selbst herbeigeführt hat. Wie der Patient, der dem Therapeuten vorwirft, dass der ihn nicht verstehe. Er leide doch so sehr unter der belastenden Situation, sich nicht zwischen Ehefrau und der Geliebten entscheiden zu können.
Lösungsansätze können also nur derart sein: Selbsterkenntnis und der Mut, Fehler und Schuld einzugestehen. Deshalb kann der Autor dem Ansatz mancher Kollegen, die jegliches Schuldgefühl bei ihren Patienten eilends „wegtherapieren“ wollen, nichts abgewinnen: es blockiert den Weg zur Selbsterkenntnis. Dr. Bonelli macht in seinem Buch immer wieder unmissverständlich klar, dass es ihm NICHT um Schuldgefühle und Belastungen geht, die beispielsweise aus Stoffwechselstörungen, Krankheiten oder aus traumatischen Erlebnissen herrühren. Er betont, er wolle keine Schuldgefühle züchten, sondern dazu ermutigen, einen einmal erkannten Fehler, eine Schuld nicht zu verleugnen, sondern an ihr zu reifen und den Handlungsspielraum zurückzugewinnen, den Verleugnung, Verdrängung, Opferstatus und Fremdbeschuldigung eingenommen hatten. Der Verfasser beleuchtet u. a. folgende Mechanismen detailliert – Zitat:
„Es gibt eine Reihe von psychopathologischen Mechanismen, die dem normalen, fehlerhaften Menschen die Schuld nehmen und ihn in ein Unschuldslamm verwandeln: Perfektionismus, Ichhaftigkeit, Selbstwertüberhöhung, Narzissmus, Selbstempathie, Wehleidigkeit, Sentimentalität, Selbstmitleid, Abgrenzung, Lebenslügen, Selbstbetrug und innere Widersprüchlichkeit. […] Alle diese Faktoren sind verwandt miteinander, bedingen einander und überschneiden sich auch teilweise. Sie nehmen die Verantwortung und blockieren den Menschen in der Makellosigkeit. Alle diese Ingredienzien sind jedenfalls zur artgerechten Aufzucht eines makellosen Unschuldslamms hilfreich. (S. 67)“
Im letzten Teil erarbeitet er anhand der alltagstauglichen Begriffe Kopf, Herz und Bauch, wie der Mensch vermeiden kann, die oben erwähnten Mechanismen zu aktivieren. Bonelli lenkt den Blick des Lesers auf die Auswirkungen, die der gängige Zeitgeist – alles ist einfach und ohne Pflichten – so mit sich bringen kann. Dazu bedient er sich zum einen ausführlicher Fallbeispiele, die nur auf den ersten Blick nichts mit unserem “normalen” Alltag zu tun haben, bei genauerem Hinsehen jedoch genau die Denkweisen und Denkfallen verdeutlichen, die die meisten von uns kennen. Zum anderen leitet er die großen Abschnitte jeweils mit einer literarischen Gestalt ein, die er darauf hin untersucht, wie sie mit Schuld und Schuldgefühlen umgeht. Da findet sich Faust neben Franz Moor und Gregorius neben Richard York. Auch Michael Kohlhaas, Anton Hofmiller, Raskolnikow und Ebenezer Scrooge werden beschrieben. Jean Valjean (Autor von „Die Elenden“) bildet dann den Abschluss.
Obwohl der Autor durch und durch akademisch geprägt ist, schreibt in einer für den Laien verständlichen Sprache und setzt mit Humor und Zuspitzungen zur Verdeutlichung ein. Er zeigt, wo es notwendig ist, die Überschneidungen, aber auch die zu beachtenden Grenzen zwischen Psychologie als Wissenschaft, Therapie und Religion. Immer wieder bettet er seine Erkenntnisse in den wissenschaftlichen Kontext und die Arbeit anderer Kollegen ein und wer will, könnte danach anhand der erwähnten Literatur ein ausgedehntes Selbststudium betreiben.
Mein Fazit || Am Ende des Buches hatte ich das Gefühl, mal wieder meine „Windschutzscheibe“ geputzt zu haben. Dr. Bonellis Buch macht deutlich, dass verschiedene therapeutische Schulen eben verschiedene Menschenbilder als Grundlage haben und man vermutlich gut damit beraten wäre, dies zu Beginn einer Therapie zu klären. Das Buch ist zur Selbstreflexion ein Gewinn und hilft zudem die Menschen im eigenen Umfeld besser zu verstehen. Eine Einladung mit sich und anderen versöhnlicher umzugehen.
Der Autor || Raphael Maria Bonelli (* 10. September 1968 in Schärding, Österreich) ist ein österreichischer Neurowissenschaftler an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien sowie Psychiater und systemischer Psychotherapeut in eigener Praxis.
Die Website des Autors: www.bonelli.info/ Raphael M. Bonelli Selber schuld! Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen 336 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag ISBN 978-3-629-13028-0 € (D) 19,99 / € (A) 20,60 Erscheinungstermin: 2013
Ich werde Ihnen ein Geheimnis verraten. Als ich sieben oder acht Jahre alt war, schickte mich eine Lehrerin zu einem Psychologen, weil sie sagte, ich sei sehr kindisch und würde überall Bilder malen. Es ist mir egal, ob du das Zeichnen durch Schreiben, Tanzen, Singen oder eine andere Art, dich frei auszudrücken, ersetzt… Es scheint so, als ob das nur für Kinder gilt.
Der Psychologe sagte, ich sei „normal“, aber was ich erfuhr, war, dass das Zeichnen in der Schule nicht mehr als gut angesehen wurde und dass ich es aufgeben oder mich verstecken musste. Es ist schon komisch, manchmal muss man nicht nur gegen Vorstellungen oder Wahrnehmungen von sich selbst ankämpfen, sondern auch gegen die Vorstellungen, die andere von einem haben.
Irgendwie habe ich aufgehört zu zeichnen, mein Verstand wurde quadratisch. Ich habe etwas Praktisches oder etwas für Erwachsene studiert, und als ich dreißig war, merkte ich, dass ich nicht glücklich war, also musste ich wieder auf mich hören und begann ein Studium der Illustration an der Kunstschule.
Wenn wir klein sind, habe ich das Gefühl, dass wir frei sind. Wir wollen spielen, Spaß haben, wissen, experimentieren. Wenn wir erwachsen werden, fangen wir an, uns zu vergleichen, Dinge zu tun, um anderen zu gefallen, uns Ziele zu setzen, nach Perfektion zu streben und Sklaven der eigenen Ansprüche zu werden. Wir hören auf, auf uns selbst zu hören, und geben anderen Stimmen mehr Gewicht. Im Erwachsenenalter machen wir uns dann auf die Suche nach dem, was wir verloren haben. Wir wechseln den Arbeitsplatz, wir fangen neu an. Wir machen Therapie, Yoga, Pilates. Wir lernen wieder zu atmen, uns nicht zu vergleichen, nicht zu kontrollieren… wir versuchen wieder, mit dem Leben zu spielen. Es ist, als müssten wir vieles vergessen, um uns selbst wiederzufinden. Van Gogh sagte:
„Wenn du eine Stimme in dir hörst, die dir sagt, dass du nicht malen kannst, dann male! Und diese Stimme wird zum Schweigen gebracht werden. Vielleicht müssen Sie die Stimmen zum Schweigen bringen, die nicht die Ihren sind.
Ich sage nicht, dass das einfach ist. Das Leben ist kompliziert, man muss dagegen ankämpfen, aber man muss auch den Mut haben, auf sich selbst zu hören. Mut!
für die mit Narben | für die ohne Familie | für die ohne Frieden | für die in Tränen | für die ohne gesunden Schlaf | für die ohne Erinnerung | für die mit Herz | für die in Verantwortung | für die inmitten von Sehnsucht | für die Heilenden und für Dich heute Nacht.
Ein Segen: durch Worte, Formeln, Gebärden ausgedrückter Wunsch an eine in religiöser Vorstellung existierende höhere Macht, Gnade, Glück, Gedeihen, Schutz zu schenken.
Mitbegründer und langjähriger Geschäftsführer des Merve Verlags Peter Gente
Dieses Zitat kam mir bei diesem Buch in den Sinn, als es mir in die Hände fiel.
Ein bibliographische Zeilenwurf, vom Autor so untertitelt, der aus Hunderten Literaturangaben aus den Bereichen Ästhetik, Religion, Soziologie und vornehmlich Psychologie besteht. Nicht mehr und nicht weniger. Weder die angeführten AutorInnen noch deren Texte gibt es wirklich und es scheint, dass Hartwig Rademacher LeserInnen und möglicherweise sich selbst einlädt, daraus Tatsachen zu schaffen. Viele der Titel locken mehr wissen zu wollen, werfen das Kopfkino an, irritieren, werfen Fragen auf, regen zum Nachdenken an, bringen zum Schmunzeln. Bei einigen Titeln habe ich einen Moment länger gebraucht um das „Akute“ darin zu entdecken. Und: nicht wenige genügen bereits als Textminiaturen, als „schöne Worte“ die man so stehen lassen kann.
Der Autor hat sein Werk „Akute Literatur“ genannt; und Hanns-Josef Ortheil hat in seiner Kurzrezension für die Zeitung „Die Welt“ angemerkt, dass hier eine Bibliographie von Titeln vorliegt, in denen Rademacher etwas „Akutes“ entdeckt hat. Nun bedeutet ja der Begriff u.a. „in einem bestimmten Moment (sehr) wichtig“. Im Zusammenhang mit Rademachers Werk gefällt mir persönlich die herkunftliche Entlehnung aus dem Lateinischen acutus „scharf, spitz“, gebildet zu lateinisch acuere „schärfen, spitzen“ sehr gut; indem ich beim Lesen die Einladung annehme, den Titeln eine individuelle Form zu geben.
Die Bibliografie bezieht sich ausnahmslos auf Sachliteratur; zumindest konnte ich nichts aus Prosa oder Lyrik finden…wobei ich mich gefragt habe, ob sich die Titel teils nicht mindestens genauso gut in einem Gedicht oder einer Kurzgeschichte ausarbeiten lassen. Um auf das obige Zitat von Peter Gente zurückzukommen: dieses Buch hat einen, und man kommt immer wieder darauf zurück. Zumindest mir geht es mir so.
Der Autor | Hartwig Rademacher, geboren 1969 in Paderborn, studierte Psychologie in Bielefeld und Boca Raton. Er lebt in Bielefeld. Das Buch ist Elisabeth gewidmet.
Die Lektüre brachte mich schlussendlich zu der Frage: ist der Name des Autors vielleicht ein Pseudonym? Es würde zum Konzept passen.
Hartwig Rademacher | Akute Literatur Bibliographischer Zeilenwurf Merve Verlag Berlin 2003 Taschenbuch ISBN 3-88396-191-4 Preis: 8 €
In diesem Schwer. soll es um die Fragen gehen: War und ist Lyrik relevant im Dialog zwischen Gläubigen, zwischen Gläubigen und Zweifelnden? Wenn ja, in welcher Form? Wie können wir bildhafte Sprache zur Vermittlung von Inhalten nutzen? Auch für die eigene Annäherung an den religiösen, spirituellen Glauben? Lässt sich mit Lyrik und Kurzprosa eine Brücke bauen für Menschen die zum Glauben keinen oder nur schwer Einstieg finden? Oder für die, die einen reflektierten Ausstieg suchen?
Dieses Buch von Kurt Marti aus dem Jahre 1979 trägt den Titel : Zärtlichkeit und Schmerz | Notizen. Die Formulierung wirkt auf eine überraschende, fast provokative Art emotional und subjektiv, was umso mehr auffällt, als der Autor sonst einen mehr sachlichen Ton bevorzugt und übrigens seit jeher als einer der profiliertesten Vertreter der sogenannten «engagierten» Literatur angesehen wird. Sein ProsaWerk, das politische Tagebuch «Zum Beispiel Bern 1972» gilt als ein Höhepunkt der politisch gerichteten Literatur der 1960er Jahre; es hat seinerzeit auch entsprechend Staub aufgewirbelt (auch wenn sich dadurch die Verhältnisse nicht geändert haben). Politik und Subjektivität, das Allgemeine und der Einzelne, das Öffentliche und das Private sind in der schweizerischen Literatur nie getrennte Bereiche gewesen, am wenigsten in den wirklich bedeutenden und repräsentativen Werken. Das literarische Schaffen Martis ist ein Beispiel dafür.
Schon «Zum Beispiel Bern 1972» ist bewusst als Tagebuch konzipiert und nicht etwa als Pamphlet; es enthält nicht nur Polemik, sondern zugleich den Ansatz zu einer Art «Innerlichkeit der Politik» (am deutlichsten vielleicht in der Frage, ob Menschen verschiedener politischer Richtungen auch unterschiedliche Träume hätten). In «Zärtlichkeit und Schmerz» finden sich ebenfalls viele tagebuchartige Passagen und eine stark persönliche Färbung.
«Jeder Terror rechtfertigt sich mit objektiver Notwendigkeit. Um so mehr gilt es, unbeirrt subjektiv zu sein.»
Kurt Marti
Der Titel bezieht sich nicht auf das Erleben des Autors; er gehört vielmehr in den theologischen Kontext des Buches, als Teil einer Neudefinition Gottes, der in dezidierter Ablehnung der «männlichen» Vorstellung eines allmächtigen, überhaupt eines mit dem Machtbegriff zu erfassenden Gottes identifiziert wird mit «Liebe, Zärtlichkeit, Schmerz». So ist denn dieses Werk Martis ein primär theologischer Text, anzugehen mit den entsprechenden Begriffen und Fragestellungen? Vielleicht ist tatsächlich seit den «Gedichten am Rand» das Theologische in seinen Büchern nie so deutlich, so explizit formuliert worden, aber was hier als Theologie auftritt, ist so unorthodox und unkonventionell, dass jede nicht-theologische Interpretation ebenso richtig, vielleicht sogar passender ist. Dies auf den ersten Blick so einfache, verständliche, ja umgängliche Buch ist im Grunde ein umfassendes Werk, ein Versuch, in einer Vielzahl von kurzen Texten (Ansätze zu Erzählungen, Mini-Essays, Aphorismen, spruchartige Sätze, lyrische Prosa, Blitzlichter der Beobachtung) Vielfältiges und Gegensätzliches zusammenzubringen; ein verwirrendes und doch sinnvolles Puzzle, Spiegelung eines vielfältigen Eindrücken ausgesetzten zeitgenössischen Bewusstseins.
Allmacht | Gott kann nicht einmal abdanken, d.h. einer Machtposition entsagen, weil er eine solche nie innegehabt hat.
Ein Tagebuch ist es allerdings nicht; die Form ist trotz des beiläufig anmutenden Untertitels strenger und anspruchsvoller: die Notizen enthalten, was sich dem Tag an Erkenntnis abgewinnen lässt, die den Tag überdauert, ohne ihm doch entrückt zu sein, geformt und fragmentarisch zugleich. Ob alles an diesen Einfällen, Beobachtungen, Gedanken des Aufzeichnens wert sei – ich habe die Frage mit dem Ton des Zweifels, der leisen Kritik gehört, und es gibt gewiss unter den aphoristischen Bemerkungen ein paar mehr beiläufig formulierte Sätze, die allein das Buch nicht tragen könnten, es freilich auch nicht tragen müssen. Aber vielleicht sind in einem Buch wie «Zärtlichkeit und Schmerz» auch die beiläufigen Bemerkungen ein rascher Einfall, eine halb spielerische Formulierung, Ausdruck des Ärgers notwendig. Denn die «Notizen» sollen auf keinen Fall gelesen werden als eine Blütenlese von Sentenzen, überzeitlich und vollkommen. Noch in keinem bisherigen Buch Martis hat der Alltag eine so wichtige Rolle gespielt wie hier, und wenn es sich auch um ein im wesentlichen theologisches Buch handelt, dann nur in dem Sinn, dass Theologie den Alltag und dessen Banalität nicht ausklammert.
«Der Tiefenpsychologie verdanken wir die Einsicht, dass die wahren Mysterien weder eleusisch noch tibetanisch, weder transzendent noch okkult, sondern alltäglich sind»: ein nicht leicht zu deutender, jedoch zentraler Satz.
Es gibt sehr wenig reine Spekulation in diesem Buch, aber sehr viel Nachdenken über grundsätzliche, sogenannte «letzte» Fragen aufgrund von Alltagserfahrungen. Unter dem Titel des vierten Kapitels «Hader mit Leibniz» steht nicht etwa ein philosophisches Streitgespräch, sondern die Erfahrung eines alten Mannes, der am Sterbebett seiner Frau (die nur noch in «arteriosklerotischer Bosheit dahindämmert») den leicht, aufklärerischen Traum von der besten aller möglichen Welten begräbt. So wenig aber Theologie und Alltag getrennte Bereiche sind, so wenig lassen sich – um noch einmal auf die eingangs aufgeworfene Frage zu Politik und Subjektivität kommen – voneinander lösen. Ich möchte sogar behaupten, dass «Zärtlichkeit und Schmerz» über eine gehörige politische Kraft verfügt, nicht wegen der im eigentlichen Sinn politischen Sätze, sondern gerade in den scheinbar nur subjektiven Notizen der Selbstbeobachtung, der auf das Ich und seine unmittelbare Umwelt bezogenen Reflexion.
«Jeder Terror rechtfertigt sich mit objektiver Notwendigkeit. Umso mehr gilt es, unbeirrt subjektiv zu sein.»
Es gehört für mich zu den Büchern, die beweisen, dass Subjektivität und Politik tatsächlich nahe zusammengehören können, und ist gerade in diesem Punkt repräsentativ für Veränderung des politischen Klimas. Mit den Begriffen «links» und «rechts» – die vor Jahren noch einigermaßen tauglich waren – ist dem Engagement des Schriftstellers nicht beizukommen: es ist komplexer, reicher geworden, dabei aber keineswegs weniger verbindlich, weniger ernst: als Auflehnung des Lebendigen gegen eine Welt der Leistung, des Spiels gegen die Herrschaft der Technik, der Unruhe und Frage gegen die falschen Sicherheiten, der Liebe gegen das Machtdenken.
Die Notizen Martis enthalten viel von den Gedanken, auch von der Atmosphäre der späten 1970er Jahre; was sie aber nicht enthalten obgleich der Autor sehr genau darum weiß ist: Resignation. Vielmehr findet immer wieder Auflehnung gegen diese Krankheit der Zeit statt, bei aller Skepsis, bei allem Widerstand gegen falsche Hoffnungen. Um noch einmal auf den theologischen Aspekt des Buches zu kommen:
«Gott? Jener Große, Verrückte, der noch immer an den Menschen glaubt.»
Der Autor || Kurt Marti (* 31. Januar 1921 in Bern; † 11. Februar 2017 ebenda) war ein Schweizer Pfarrer und Schriftsteller. Er studierte Jura und Theologie in Bern und Basel. 1977 wurde er zum Ehrendoktor der Universität Bern ernannt. 1979 erhielt er den Kurt-Tucholsky-Preis. Seine Gedichte wurden in 14 Sprachen übersetzt.
Kurt Marti | Zärtlichkeit und Schmerz. Notizen. Luchterhand, Darmstadt und Neuwied 1979. Erhältlich ist u.a. diese broschierte Ausgabe: Verlag: Luchterhand Literaturverlag (Juni 1993) ISBN-10: 3630613373 ISBN-13: 978-3630613376
Ich preise Dich Herr, / Darum hüpfe ich | Drutmar Cremer
Tiere beten in Dur heiter beschwingt schlitzohrig – so lautet der Untertitel dieses Buches. Und ja, ungewöhnliche Gebete sind das, die der Benedektiner Drutmar Cremer da verfasst hat.
Charakteristisch für das lyrische Werk des Dichters, Verlegers & Theologen Drutmar Cremer ist sein sparsames Vokabular, der Verzicht auf jegliche unnötige Ausschmückung. Teilweise meditativ zu nennen ist der Stil, in dem er Gedichte schreibt und immer ist in seinen Gedichten wie auch in seinen sonstigen literarischen Arbeiten die Kraft und der Einfluss seines Glaubens zu erkennen, ohne dass dieser im Vordergrund stehen muss. in diesem Falle steht er allerdings im Zentrum, denn die Tiere beten, mit menschlichen Zügen und für uns gut nachvollziehbar.
Die Gebete zielen darauf ab, die Verdrehtheiten des Daseins anzuerkennen, ihnen das Gute abzugewinnen, mit einem Lächeln. Der Ernst des Schattens wird aufgelöst durch Lichtflecke, die tanzen.
OSB Cremer scheint uns daran erinnern zu wollen, dass wir unseren Blick auf Flora und Fauna schärfen sollten um Zuversicht, Heiterkeit und die schöpferische Genialität in unseren Alltag zu ziehen.
Durch das Büchlein zieht sich, dass sich die Tiere mit Ihren Eigenschaften, ihrem Charakter und Äußerlichkeiten (in)direkt Gott vorstellen. Was ein wenig amüsant ist, denn Jahwe ist der Schöpfer und steht nicht im Ruf vergesslich zu sein. Macht konzeptionell aber durchaus Sinn, denn es geht dem Autor wohl eher darum, uns beispielhaft anzuleiten in vergleichbarer Manier zu reflektieren.
Gebet der Katze
An Geschmeidigkeit, Herr, an sanfter Eleganz, an leiser Wendigkeit im Sprung hast du es nicht fehlen lassen – bei mir, dem Edelfräulein deiner Schöpfung. Alle Achtung!
Aber eines bedarf deiner Erklärung: Warum gabst du mir – der Dame von Rang – den schönsten Schnurrbart der Welt? . .
Aus: Drutmar Cremer – Ich preise dich Herr
Die Lektüre der Cremerschen Gedichte hat zudem einen Nebeneffekt. Ich habe mein Verständnis vom Beten überdacht bzw. weiterentwickelt. Bisher hatte ich diese Form des Gesprächs, Monologs mit/gen einer „höheren Instanz“ eher an den Empfehlungen von Religionsprofis festgemacht. Davon löse ich mich zunehmend. Was für mich befreiend ist, da ich in meiner Kindheit und Jugend insbesondere katholisch geprägt wurde. Auf durchweg unangenehme Weise übrigens.
Das Gebet der Tiere hat etwas Spielerisches mit einer Prise Ernst und Ermunterndes. Das erinnert mich an Gespräche, in denen Thema war, wo man seinen Zugang zum Glauben sieht. Bei mir geht der in erster Linie über die Natur. Über das Bestaunen der Schöpfung an sich.
Zur Machart des Buches
Die Schrift ist in grün gehalten, ebenso die nüchtern reduziert und fröhlich wirkenden Illustrationen von Polykarp Uehlein. Der Münsterschwarzacher Benediktiner Uehlein wirkt als Missionar in Tanzania. In der Buchbeschreibung findet sich eine Umschreibung der Zeichnungen, die mich schmunzeln lässt:
Wer diese Tiere anschaut, ihr Wesen und ihr Verhalten, der ahnt vielleicht, wie Gott den Menschen gedacht hat.
Hier ist mir doch manchmal die zu erbringende Transferleistung zu groß. Dennoch…genießen lassen sich die Illustrationen allemal.
Bei der Überlegung, ob Tiere wirklich beten habe ich zumindest drei Stellen in der Bibel gefunden, wo ihnen dies zugeschrieben wird:
7 Singet umeinander dem HERRN mit Dank und lobet unsern Gott mit Harfen, 8 der den Himmel mit Wolken verdeckt und gibt Regen auf Erden; der Gras auf Bergen wachsen läßt; 9 der dem Vieh sein Futter gibt, den jungen Raben, die ihn anrufen.
Psalm 147
41 Wer bereitet den Raben die Speise, wenn seine Jungen zu Gott rufen und fliegen irre, weil sie nicht zu essen haben?
Hiob 38
20 Auch die wilden Tiere schreien zu dir, / denn die Wasserläufe sind versiegt / und die Viehweiden vom Feuer verbrannt.
Joel 1, Vers 20
Drutmar Cremer OSB
Geb. 1930, ist ein deutscher Schriftsteller, Verleger und Theologe. Nach seinem Abitur trat er in die Benediktinerabtei Maria Laach ein, wo er 1958 zum Priester geweiht wurde. Von 1960 bis 1967 war er dann als Jugendseelsorger in Maria Laach tätig.
Seit 1971 leitet er den Kunstverlag Maria Laach und auch die dort ansässigen Kunstwerkstätten.
Pater Polykarp Uehlein
Geb. 1931, ist katholischer Geistlicher, Benediktinermönch, Maler und Glaskünstler. Er studierte bei Georg Meistermann Malerei und reiste 1963 nach Tansania (Ostafrika) in das Missionarsgebiet der Abtei Ndanda aus. Neben Glasfenstern zählen auch Zeichnungen, Acrylbilder und Aquarelle, aber auch in vielen anderen Techniken geschaffene abstrakte Bilder zu seinen Werken. Er hat das Buch von Drutmar Cremer illustriert.
Ich preise Dich Herr, / Darum hüpfe ich | Drutmar Cremer
Tiere beten in Dur heiter beschwingt schlitzohrig – so lautet der Untertitel dieses Buches. Und ja, ungewöhnliche Gebete sind das, die der Benedektiner Drutmar Cremer da verfasst hat.
Charakteristisch für das lyrische Werk des Dichters, Verlegers & Theologen Drutmar Cremer ist sein sparsames Vokabular, der Verzicht auf jegliche unnötige Ausschmückung. Teilweise meditativ zu nennen ist der Stil, in dem er Gedichte schreibt und immer ist in seinen Gedichten wie auch in seinen sonstigen literarischen Arbeiten die Kraft und der Einfluss seines Glaubens zu erkennen, ohne dass dieser im Vordergrund stehen muss. in diesem Falle steht er allerdings im Zentrum, denn die Tiere beten, mit menschlichen Zügen und für uns gut nachvollziehbar.
Die Gebete zielen darauf ab, die Verdrehtheiten des Daseins anzuerkennen, ihnen das Gute abzugewinnen, mit einem Lächeln. Der Ernst des Schattens wird aufgelöst durch Lichtflecke, die tanzen.
OSB Cremer scheint uns daran erinnern zu wollen, dass wir unseren Blick auf Flora und Fauna schärfen sollten um Zuversicht, Heiterkeit und die schöpferische Genialität in unseren Alltag zu ziehen.
Durch das Büchlein zieht sich, dass sich die Tiere mit Ihren Eigenschaften, ihrem Charakter und Äußerlichkeiten (in)direkt Gott vorstellen. Was ein wenig amüsant ist, denn Jahwe ist der Schöpfer und steht nicht im Ruf vergesslich zu sein. Macht konzeptionell aber durchaus Sinn, denn es geht dem Autor wohl eher darum, uns beispielhaft anzuleiten in vergleichbarer Manier zu reflektieren.
Gebet der Katze
An Geschmeidigkeit, Herr, an sanfter Eleganz, an leiser Wendigkeit im Sprung hast du es nicht fehlen lassen – bei mir, dem Edelfräulein deiner Schöpfung. Alle Achtung!
Aber eines bedarf deiner Erklärung: Warum gabst du mir – der Dame von Rang – den schönsten Schnurrbart der Welt? . .
Aus: Drutmar Cremer – Ich preise dich Herr
Die Lektüre der Cremerschen Gedichte hat zudem einen Nebeneffekt. Ich habe mein Verständnis vom Beten überdacht bzw. weiterentwickelt. Bisher hatte ich diese Form des Gesprächs, Monologs mit/gen einer „höheren Instanz“ eher an den Empfehlungen von Religionsprofis festgemacht. Davon löse ich mich zunehmend. Was für mich befreiend ist, da ich in meiner Kindheit und Jugend insbesondere katholisch geprägt wurde. Auf durchweg unangenehme Weise übrigens.
Das Gebet der Tiere hat etwas Spielerisches mit einer Prise Ernst und Ermunterndes. Das erinnert mich an Gespräche, in denen Thema war, wo man seinen Zugang zum Glauben sieht. Bei mir geht der in erster Linie über die Natur. Über das Bestaunen der Schöpfung an sich.
Zur Machart des Buches
Die Schrift ist in grün gehalten, ebenso die nüchtern reduziert und fröhlich wirkenden Illustrationen von Polykarp Uehlein. Der Münsterschwarzacher Benediktiner Uehlein wirkt als Missionar in Tanzania. In der Buchbeschreibung findet sich eine Umschreibung der Zeichnungen, die mich schmunzeln lässt:
Wer diese Tiere anschaut, ihr Wesen und ihr Verhalten, der ahnt vielleicht, wie Gott den Menschen gedacht hat.
Hier ist mir doch manchmal die zu erbringende Transferleistung zu groß. Dennoch…genießen lassen sich die Illustrationen allemal.
Bei der Überlegung, ob Tiere wirklich beten habe ich zumindest drei Stellen in der Bibel gefunden, wo ihnen dies zugeschrieben wird:
7 Singet umeinander dem HERRN mit Dank und lobet unsern Gott mit Harfen, 8 der den Himmel mit Wolken verdeckt und gibt Regen auf Erden; der Gras auf Bergen wachsen läßt; 9 der dem Vieh sein Futter gibt, den jungen Raben, die ihn anrufen.
Psalm 147
41 Wer bereitet den Raben die Speise, wenn seine Jungen zu Gott rufen und fliegen irre, weil sie nicht zu essen haben?
Hiob 38
20 Auch die wilden Tiere schreien zu dir, / denn die Wasserläufe sind versiegt / und die Viehweiden vom Feuer verbrannt.
Joel 1, Vers 20
Drutmar Cremer OSB
Geb. 1930, ist ein deutscher Schriftsteller, Verleger und Theologe. Nach seinem Abitur trat er in die Benediktinerabtei Maria Laach ein, wo er 1958 zum Priester geweiht wurde. Von 1960 bis 1967 war er dann als Jugendseelsorger in Maria Laach tätig.
Seit 1971 leitet er den Kunstverlag Maria Laach und auch die dort ansässigen Kunstwerkstätten.
Pater Polykarp Uehlein
Geb. 1931, ist katholischer Geistlicher, Benediktinermönch, Maler und Glaskünstler.
Er studierte bei Georg Meistermann Malerei und reiste 1963 nach Tansania (Ostafrika) in das Missionarsgebiet der Abtei Ndanda aus.
Neben Glasfenstern zählen auch Zeichnungen, Acrylbilder und Aquarelle, aber auch in vielen anderen Techniken geschaffene abstrakte Bilder zu seinen Werken.