Raphael M. Bonelli | Selber schuld!

Heute verdrängen wir nicht mehr Sexualität, sondern Schuld: Klopft das Schuldgefühl an der Türe des Bewusstseins, geben wir schnell die heiße Kartoffel an andere weiter. Eltern, Lehrer, Ehepartner – alle sollen schuld sein, nur damit wir uns nicht schuldig fühlen müssen. Beim Wiener Psychiater Raphael M. Bonelli legt sich die Unschuld auf die Couch. An vielen Fällen aus seiner Praxis zeigt er: Fremdbeschuldigung und Selbstmitleid machen unfrei, bitter und oft auch wirklich krank. Der korpulenten Patientin ist klar: »An meinem Gewicht ist meine Familie schuld!« Der Ehemann schiebt den Seitensprung, bei dem er ertappt wurde, seiner bigotten Umgebung in die Schuhe, denn: »Ein gesunder Mann braucht das!« Und der überführte Dopingsünder sieht sich als Opfer der Medien. Bonellis Therapievorschlag lautet: Persönliche Schuld erkennen und selbst Verantwortung für das eigene Tun übernehmen. Wer zu einem schmunzelnden „Selber schuld!“ bereit ist, kann auch leichter anderen verzeihen.

Raphael M Bonelli • Selber schuld- Cover

„Über Sex zu sprechen ist heute kein Problem mehr, weder in Therapien noch in Talkshows. […] Aber über eigene Fehler sprechen – das geht gar nicht. Nichts ist so intim wie die eigene Schuld. Die Abwehraggression bei dem Thema ist deutlich spürbar, besonders auffällig natürlich bei Paartherapien, bei denen jeweils “Unschuld” auf Beschuldigung prallt. […] Wir verdrängen unsere Schuld, weil sie letztlich Schmerz bedeutet und wir Angst vor Schmerz haben. Viele Menschen tun sich heute schwer, die Verantwortung für ihre Taten zu übernehmen, und haben sich ein entlastendes Erklärungsmuster von Fremdbeschuldigung und Selbstmitleid zurechtgelegt. Fast jeder sieht sich als Opfer. Dieser Mechanismus ist aber der seelischen Gesundheit nicht förderlich … „

Der 1968 geborene Neurowissenschaftler und Psychotherapeut setzt sich hier vor allem mit der inneren Einstellung auseinander, selbst nie an der eigenen Misere schuld sein zu wollen. Schuld sind die anderen, die Eltern, die Lehrer, der Partner, die Lebensumstände usw.
Allerdings schränkt uns die Verdrängung der eigenen Schuld und das Ausweichen in die Fremdbeschuldigung sowie das Erstarren in der Opferrolle in unserem Handlungsspielraum ein. Als Opfer könne man nichts tun, um sich aus Verstrickungen zu befreien, die man möglicherweise selbst herbeigeführt hat. Wie der Patient, der dem Therapeuten vorwirft, dass der ihn nicht verstehe. Er leide doch so sehr unter der belastenden Situation, sich nicht zwischen Ehefrau und der Geliebten entscheiden zu können.

Lösungsansätze können also nur derart sein: Selbsterkenntnis und der Mut, Fehler und Schuld einzugestehen. Deshalb kann der Autor dem Ansatz mancher Kollegen, die jegliches Schuldgefühl bei ihren Patienten eilends „wegtherapieren“ wollen, nichts abgewinnen: es blockiert den Weg zur Selbsterkenntnis.
Dr. Bonelli macht in seinem Buch immer wieder unmissverständlich klar, dass es ihm NICHT um Schuldgefühle und Belastungen geht, die beispielsweise aus Stoffwechselstörungen, Krankheiten oder aus traumatischen Erlebnissen herrühren. Er betont, er wolle keine Schuldgefühle züchten, sondern dazu ermutigen, einen einmal erkannten Fehler, eine Schuld nicht zu verleugnen, sondern an ihr zu reifen und den Handlungsspielraum zurückzugewinnen, den Verleugnung, Verdrängung, Opferstatus und Fremdbeschuldigung eingenommen hatten. Der Verfasser beleuchtet u. a. folgende Mechanismen detailliert – Zitat:

„Es gibt eine Reihe von psychopathologischen Mechanismen, die dem normalen, fehlerhaften Menschen die Schuld nehmen und ihn in ein Unschuldslamm verwandeln: Perfektionismus, Ichhaftigkeit, Selbstwertüberhöhung, Narzissmus, Selbstempathie, Wehleidigkeit, Sentimentalität, Selbstmitleid, Abgrenzung, Lebenslügen, Selbstbetrug und innere Widersprüchlichkeit. […] Alle diese Faktoren sind verwandt miteinander, bedingen einander und überschneiden sich auch teilweise. Sie nehmen die Verantwortung und blockieren den Menschen in der Makellosigkeit. Alle diese Ingredienzien sind jedenfalls zur artgerechten Aufzucht eines makellosen Unschuldslamms hilfreich. (S. 67)“

Im letzten Teil erarbeitet er anhand der alltagstauglichen Begriffe Kopf, Herz und Bauch, wie der Mensch vermeiden kann, die oben erwähnten Mechanismen zu aktivieren.
Bonelli lenkt den Blick des Lesers auf die Auswirkungen, die der gängige Zeitgeist – alles ist einfach und ohne Pflichten – so mit sich bringen kann. Dazu bedient er sich zum einen ausführlicher Fallbeispiele, die nur auf den ersten Blick nichts mit unserem “normalen” Alltag zu tun haben, bei genauerem Hinsehen jedoch genau die Denkweisen und Denkfallen verdeutlichen, die die meisten von uns kennen.
Zum anderen leitet er die großen Abschnitte jeweils mit einer literarischen Gestalt ein, die er darauf hin untersucht, wie sie mit Schuld und Schuldgefühlen umgeht. Da findet sich Faust neben Franz Moor und Gregorius neben Richard York. Auch Michael Kohlhaas, Anton Hofmiller, Raskolnikow und Ebenezer Scrooge werden beschrieben. Jean Valjean (Autor von „Die Elenden“) bildet dann den Abschluss.

Obwohl der Autor durch und durch akademisch geprägt ist, schreibt in einer für den Laien verständlichen Sprache und setzt mit Humor und Zuspitzungen zur Verdeutlichung ein. Er zeigt, wo es notwendig ist, die Überschneidungen, aber auch die zu beachtenden Grenzen zwischen Psychologie als Wissenschaft, Therapie und Religion. Immer wieder bettet er seine Erkenntnisse in den wissenschaftlichen Kontext und die Arbeit anderer Kollegen ein und wer will, könnte danach anhand der erwähnten Literatur ein ausgedehntes Selbststudium betreiben.

Mein Fazit || Am Ende des Buches hatte ich das Gefühl, mal wieder meine „Windschutzscheibe“ geputzt zu haben.
Dr. Bonellis Buch macht deutlich, dass verschiedene therapeutische Schulen eben verschiedene Menschenbilder als Grundlage haben und man vermutlich gut damit beraten wäre, dies zu Beginn einer Therapie zu klären.
Das Buch ist zur Selbstreflexion ein Gewinn und hilft zudem die Menschen im eigenen Umfeld besser zu verstehen. Eine Einladung mit sich und anderen versöhnlicher umzugehen.

Der Autor || Raphael Maria Bonelli (* 10. September 1968 in Schärding, Österreich) ist ein österreichischer Neurowissenschaftler an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien sowie Psychiater und systemischer Psychotherapeut in eigener Praxis.

Die Website des Autors: www.bonelli.info/
Raphael M. Bonelli Selber schuld!
Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen
336 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-629-13028-0
€ (D) 19,99 / € (A) 20,60
Erscheinungstermin: 2013

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